Donnerstag, 25. Februar 2016

Gegen was bin ich eigentlich?



Egal wo ich hinschaue, momentan werde ich überall aufgefordert, gegen etwas zu sein. Egal ob in Facebook, in Nachrichtensendungen, in Tageszeitungen, Newsmagazinen, christlichen Informationsdiensten, Blogs, Kommentaren oder Interviews.

Ich soll gegen den Islam sein oder gegen den Koran. Ich soll gegen Angela Merkel sein und ihre flüchtlingsfreundliche Politik. Ich soll gegen Flüchtlinge sein, die unser Land ruinieren, unsere Kultur zerstören und unsere Frauen vergewaltigen. Ich soll gegen die Rechten sein, die eine Saat des Hasses in unserem Land säen, ich soll gegen die Lügenpresse sein, die mich auffordert gegen die zu sein, die gegen Flüchtlinge sind, ich soll gegen Obama sein, der zu freundlich zu Moslems und Palästinensern ist und ich soll gegen Donald Trump sein, der die Ängste der Menschen bedient und dadurch sogar die Evangelikalen auf seine Seite ziehen kann. Ich soll gegen Israel sein, weil es die ganze Welt beeinflusst und israelische Produkte boykottieren und ich soll gegen die Palästinenser sein, die kontinuierlich Israelis bedrohen und ihnen ihr Recht auf Land und Sicherheit absprechen. Ich soll gegen Schwule sein, weil sie Moral, christliche Werte und unser Familienbild zerstören und ich soll gegen die sein, die gegen Schwule sind, weil es null Toleranz gegen diejenigen gibt, die nicht tolerant sein wollen. Ich soll gegen Europa sein, weil Europapolitik nationale Interessen nicht berücksichtigt und ungerechte Verhältnisse schafft und ich soll gegen Nationalismus sein, weil er die Idee eines friedlichen und geeinten Europas gefährdet.

Und egal, wie man sich äußert, in welche Richtung man seine Sympathien bekundet, egal wo man Verständnis oder Wohlwollen zeigt - es ist immer jemand in der Menge, der einen dafür kritisiert, beschimpft oder verurteilt. Und das führt dazu, dass immer mehr gar nichts mehr sagen, gar keine Stellung mehr beziehen, gleichgültig werden, sich heillos überfordert und müde fühlen und sich so einreihen in die irgendwie ohnmächtige und schweigende Masse.

Gegen was bin ich eigentlich?

Zunächst einmal bin ich für etwas: ich bin für Jesus Christus, den Mann aus Nazareth, der für mich mit seinem ganzen Leben hier auf dieser Welt leuchtendes Vorbild ist, ethische Leitlinie, Friedefürst, von Herzen sanftmütig und demütig, voller Erbarmen, zur Feindesliebe fähig und am Kreuz vergebungsbereit denen gegenüber, die die Nägel durch seine Hände und Füße trieben. Ich bin fasziniert von Jesus, begeistert von ihm und ungeheuer stolz darauf, zu den vielen gehören zu dürfen, die er in seine Nachfolge gerufen hat. Ich bin für ihn, für seine Sache, für seinen Auftrag, für seine Werte und für seine Ethik.

Und ich bin für sein Reich. Für das Reich Gottes. Ich habe mich entschieden mitzuhelfen, dass sein Königreich, seine Herrschaft, seine Werte, sein Erbarmen Platz bekommen in dieser Welt. Ich bin seiner Herrschaft verpflichtet und das vor allem anderen.
Aber gegen was bin ich eigentlich? Ich finde das eine sehr anspruchsvolle Frage. Und ich versuche es einmal auf den Punkt zu bringen. Ich bin ganz generell gegen jede Form von Extremismus und Fanatismus. Punkt!

Ich bin nicht gegen den Islam, nicht gegen Moslems und nicht gegen den Koran! Dieses Buch hat das Potenzial Mitmenschlichkeit, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Sorge um die Armen, Gottesverehrung und viel anderes Gute hervorzubringen. Aber in den Händen von Menschen die von ihrem Charakter und ihrer Wesensstruktur zu Fanatismus und Extremismus neigen (was ein zutiefst psychologisches und kein religiöses Problem ist) kann man aus diesem Koran und dem Islam eine grausame Religion machen, die Andersdenkenden den Kopf abschneidet, Kriege führt, die Welt erobern möchte und für kein vernünftiges Argument mehr ansprechbar ist. Aber das ist nicht das Problem des Koran, sondern fanatischer Menschen, deren gesundes Empfinden für Menschlichkeit, Toleranz, Liebe und Eifer verschwunden ist und ersetzt wurde mit engstirnigem, ängstlichem, panischem, irrationalem, unempfindlichem und taubem Denken.

Und besonders wir Christen sollten uns daran erinnern, dass die biblischen Texte genauso viel Stoff bieten, Kreuzzüge auszulösen, Andersgläubige umzubringen, Hexen zu verbrennen, Minderheiten zu unterdrücken, Ungläubige zu verachten usw. Alles schon einmal dagewesen. Aber das ist kein Problem der Bibel, sondern fanatischer Menschen, die nicht das große Ganze sehen, einzelne Verse oder Abschnitte herauspicken, keine Entwicklung in der Bibel erkennen wollen, alles als gleich wichtig deuten, Jesu Botschaft zu wenig im Zentrum haben und die Bibel vor den Karren ihrer Ängste spannen, anstatt sich von ihr korrigieren zu lassen.

Das Problem sind fanatische, extremistische Menschen und deren tiefe charakterliche Defizite, die dahinter stecken. Extremismus ist kein Ausdruck von besonders frommer Hingabe oder leidenschaftlichem Glauben, sondern von großer Unsicherheit, mangelnder Toleranzfähigkeit, tiefen Ängsten und großer Scham. Wer innerlich so verunsichert und umhergetrieben ist, für den wird Beweglichkeit - ob im Herzen oder im Denken - zur Bedrohung und der sucht das Feste, das in Stein gemeißelte, das Unbewegliche, das Dogmatische, das Festgeschriebene, das Intolerante, denn das gibt scheinbar Halt in der großen inneren Verunsicherung und Angst. 

Daher ist das Einzige, wogegen ich bin Fanatismus und Extremismus, egal woher er kommt.
Ich bin gegen Schwule, die auf extreme Art und Weise ihre Sexualität ausleben, auf ihren Love Parades Hemmungslosigkeit propagieren, es Treiben zwischen Bahnhofstoilette und Saunaklub und die radikal und fanatisch Lobby schaffen gegen alle, die es wagen Homosexualität nicht als völlig normal, gleichwertig, gleichberechtigt und unproblematisch zu deklarieren, die jede kritische Stimme und Anfrage als Diskriminierung entwerten und damit all ihre Kritiker öffentlich mundtot machen wollen. (Und ich bin übrigens genauso gegen Heterosexualität, die in ähnlicher Weise Hemmungslosigkeit und Wertelosigkeit propagiert.)

Und ich bin andererseits gegen Homophobie, die homosexuelle Menschen dauernd schuldig spricht, ihnen Boshaftigkeit unterstellt, alle über einen Kamm schert, keinen Blick für ihre großen Nöte hat und ihnen keinen Platz in unseren Kirchen und in unserem Herzen zugesteht.

Ich bin gegen Fanatismus und Extremismus!

In den meisten Fällen ist nicht die Sache an sich das Problem, sondern ihr fanatisches Ausleben, der extremistische Umgang damit und die radikalen Konsequenzen, die gezogen werden.
Nicht konservative Politik ist problematisch, sondern rechter Fanatismus. Nicht linke Politik ist problematisch, sondern ihre extremistische Erscheinungsform.
Nicht Israelis oder Palästinenser sind problematisch, sondern ihre extremistischen Vertreter, die nur Feindbilder kennen, das Gute im anderen nicht mehr erkennen können und sich in ihre inneren Bedrohungsszenarien verliebt haben. Die extremistische Brille erlaubt keinen neuen oder veränderten Blick auf die alten Sichtweisen.

In den meisten Berichterstattungen oder Kommentaren oder Meinungen vermisse ich diese Differenzierung zwischen der Sache an sich und ihren extremistischen und fanatischen Erscheinungsformen. Die Angst vor der extremistischen Erscheinungsform ist so ausgeprägt, dass man der Sache an sich nichts mehr Gutes oder Wertvolles abgewinnen kann.

  • Da wird der Islam und der Koran in einen Topf geworfen mit dem IS.
  • Homosexuell empfindende Menschen in einen Topf mit schrillen Schwulen die nur auf Beute aus sind.
  • Menschen, die Homosexualität für falsch halten in einen Topf mit fanatischem Gay-bashing und inquisitorischem Denken.
  • Flüchtlinge, die aus großer Not entronnen sind in einen Topf mit kriminellen Ausländern und Frauen verachtenden Jugendlichen.
  • Besorgte Bürger, die nicht wissen, wie die Integration so vieler Menschen auf einmal gut gelingen soll in einen Topf mit Neonazis und rechtem Mob.
  • Palästinenser, die große Not leiden, keinen Zugang zu wichtigen Ressourcen haben und auf ihre Not aufmerksam machen möchten in einen Topf mit Terroristen, Selbstmordattentäter und Messerstechern.
  • Israelis, die sich Sorgen machen um ihre Sicherheit, ständig bedroht sind und täglichem Bombenalarm ausgesetzt in einen Topf mit ultraorthodoxen Parteien oder rücksichtslosen Siedlern.

Extreme und Fanatismus sind das einfachere und unkompliziertere Denken. Differenzierung, inneres Abwägen und denkerische Beweglichkeit sind wesentlich anspruchsvoller. Aber der Gott, der den Regenbogen geschaffen hat ist nicht erfreut darüber, wenn wir alles schwarz-weiß sehen!
In alledem erschrecke ich über mich selbst beim Hören von Nachrichten oder beim Lesen von Zeitungsartikeln. Irgendein Teil von mir solidarisiert sich mit diesem schwarz-weiß Denken, mit einfachen Antworten. Ganz offensichtlich tragen sie zu einer inneren Beruhigung bei. Jetzt ist der Fall klar, jetzt kann ich Position beziehen, jetzt weiß ich, was ich will…
Aber so einfach möchte ich es mir nicht machen. Ich bleibe dabei: ich suche die Differenzierung, ich möchte dahinter schauen, verstehen, Jesus folgen, seine Herrschaft ausbreiten und seinem wichtigsten Gebot treu bleiben: der Liebe zu allen Menschen, sogar der Liebe zum Feind. Es soll bunt bleiben in meinem Leben.

Gegen was bin ich eigentlich? Es bleibt dabei: gegen jede Form von Fanatismus und Extremismus. Und es bleibt dabei: ich will begeistert sein von Jesus!

Mittwoch, 17. Februar 2016

Regenbogen

Vor einigen Tagen sah ich ein Plakat in allen Regenbogenfarben.
Beim Vorbeifahren kam mir der Gedanke: Der Gott, der den Regenbogen gemacht hat, mag es nicht, wenn wir alles schwarz - weiß sehen.

Montag, 8. Februar 2016

Elefantenbullen und Schafe


Ich bin überzeugt, damit christlicher Glaube lebendig, vital und begeistert ist, müssen Christen vier entscheidende Grunderfahrungen machen:
  • Die Erfahrung liebevoller Gemeinschaft
  • Die Erfahrung tiefgreifender persönlicher Veränderung
  • Die Erfahrung von Gotteserlebnissen, also Godstories, Gotteserfahrungen
  • Die Erfahrung von persönlicher Berufung, also sich als Teil von etwas Größerem erleben
 Einerseits muss sich der einzelne Gläubige um diese Grunderfahrungen bemühen, andererseits muss eine Kirche sich so organisieren, dass diese Grunderfahrungen dort tatsächlich möglich sind.
Zunächst jedoch ein paar Worte zum Thema liebevolle Gemeinschaft.
Jesus hat darüber gesprochen, als er sagte:
Johannes 13, 34 Ich gebe euch ein neues Gebot: Liebt einander! Ihr sollt einander lieben, wie ich euch geliebt habe. 35 An eurer Liebe zueinander werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid.«
Die allererste Gemeinde die dann entstanden ist hat genau diese Grunderfahrung sicherstellen wollen und darum lesen wir über sie:
 Apg.2, 44 Alle, die zum Glauben gekommen waren, bildeten eine enge Gemeinschaft und taten ihren ganzen Besitz zusammen. 45 Von Fall zu Fall verkauften sie Grundstücke und Wertgegenstände und verteilten den Erlös unter die Bedürftigen in der Gemeinde. 46 Tag für Tag versammelten sie sich einmütig im Tempel, und in ihren Häusern hielten sie das Mahl des Herrn und aßen gemeinsam, mit jubelnder Freude und reinem Herzen.
Und 30 Jahre später schreibt Paulus in seinem Brief an die Philipper immer noch von der Wichtigkeit dieser liebevollen Gemeinschaft, indem er sagt:
Phil.2, 1 Ermutigt ihr euch gegenseitig, Christus nachzufolgen? Tröstet ihr euch gegenseitig in Liebe? Seid ihr im Heiligen Geist verbunden? Gibt es unter euch Barmherzigkeit und Mitgefühl? 2 Dann macht doch meine Freude vollkommen, indem ihr in guter Gemeinschaft zusammenarbeitet, einander liebt und von ganzem Herzen zusammenhaltet. 3 Seid nicht selbstsüchtig; strebt nicht danach, einen guten Eindruck auf andere zu machen, sondern seid bescheiden und achtet die anderen höher als euch selbst. 4 Denkt nicht nur an eure eigenen Angelegenheiten, sondern interessiert euch auch für die anderen und für das, was sie tun.
Diese Verse müssten nicht in der Bibel stehen, wenn liebevolle Gemeinschaft einfach wäre. Mose, Jesus und Paulus mussten dazu ermahnen, dazu ermutigen, dass liebevolle Gemeinschaft gelingt.
Heute jedoch begegnen wir einer ganz besonderen Problematik. Es ist die Individualisierung des Glaubens, die ein großes Hindernis für liebevolle Gemeinschaft darstellt.

Wir erleben seit vielen Jahrzehnten eine gesellschaftliche Entwicklung, die der Erfahrung von liebevoller Gemeinschaft entgegenläuft.

Zunächst einmal waren antike Gesellschaften geprägt vom Gedanken des Kollektiv. Ein Mensch konnte sich nicht anders definieren und wahrnehmen als Teil eines Kollektivs. Ich bin immer Teil eines Ganzen. Teil einer Familie, einer Sippe, eines Stammes oder eines Volkes. Und mein Schicksal ist untrennbar verbunden mit dem Schicksal dieses Kollektivs. Segen ist kollektiver Segen und Strafe ist kollektive Strafe. Der Gedanke an Individualität ist in keinster Weise auf dem Radar der antiken Menschen! Entscheidungsfreiheit, Entscheidungshoheit oder individuelle Willensfreiheit sind fremde Gedanken einer antiken Sippen- oder Stammesgesellschaft. Ich bin Teil eines Ganzen, Teil eines kollektiven Willens und kollektiver Entscheidungen.

Wenn der König Gehorsam ist, wird er und das ganze Volk von den Göttern gesegnet.
Wenn ein feindliches Gebiet erobert wird, wird dort der ganze Stamm ausgerottet.
Wenn der König anfängt Götzen anzubeten, folgt ihm das ganze Volk in dieser Praxis.
Wenn am Sabbat Synagogengottesdienst ist, geht das ganze Dorf, da kann sich keiner rausnehmen.
Wenn der Israelit Achan im Buch Josua verbotenerweise etwas aus der eroberten Stadt Jericho an sich nimmt, ist Gott über ganz Israel erzürnt und es wird nicht nur er, sondern seine ganze Familie und sogar seine Herden mit dem Tod bestraft.
Auf die Frage des Gefängniswärters in Philippi, was er tun muss kann Paulus antworten: Apg.16,31 : »Glaube an Jesus, den Herrn, und du wirst gerettet werden, du und alle, die in deinem Haus leben!« Alle in deinem Haus! Das ist kollektives Denken, sogar kollektives Heilsverständnis!
Wenn über Gott gesprochen wurde, dann redet man nie von meinem Gott, sondern immer von dem Gott meiner Väter, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs! Es ist der Gott eines Volkes, einer Sippe und einer Familie, der Gott meiner Väter! 

Die Bibel gebraucht interessanterweise für die Gläubigen ausschließlich kollektive Bilder:
Im Alten Testament das Bild des Volkes Gottes, also ein ganzes Volk als Ausdruck der Gemeinschaft der Gläubigen.

Im Neuen Testament haben wir das Bild der Herde, und wir alle sind Schafe des einen Hirten und Teil einer Herde. Noch nie hat ein Orientale von einem einzelnen Schaf gehört, sondern immer nur von einer Schafherde. Gläubige sind nicht Elefantenbullen oder Tiger, die als Einzelgänger unterwegs sind und sich nur zur Paarungszeit begegnen! Wir sind Schafe und gehören zu einer Herde.
Oder dem ganz starken Bild des Körpers bei Paulus, wo jeder Gläubige ein Körperteil ist, dass über Sehnen und Bänder mit anderen verbunden ist und jeder das andere braucht und keines ohne das andere existieren kann.

1.Kor.12,12 So wie unser Leib aus vielen Gliedern besteht und diese Glieder einen Leib bilden, so besteht auch die Gemeinde Christi aus vielen Gliedern und ist doch ein einziger Leib.
Dieses kollektive Verständnis von Leben und von Glauben ist viele Jahrtausende Lebensgefühl aller Menschen. Auch noch im Mittelalter waren die Menschen Teil der Entscheidungen und des Glaubens ihres Fürsten, ihres Königs oder ihres Regenten. Wird der Fürst protestantisch, werden auch die Einwohner seines Landes protestantisch. Wird ein anderer Fürst katholisch, werden seine Untertanen ebenfalls katholisch.
Und nun leitet ein junges Mönchlein aus Wittenberg eine entscheidende Wende ein: aus kollektiv wird persönlich. Luther entdeckt im Evangelium die persönliche Seite des Glaubens. Wenn er von sola fide, also allein aus Glauben redet, dann meint er vor allem, dass es der persönliche Glaube ist, der mich rettet. Es reicht eben nicht, nur Teil eines gläubigen Kollektivs zu sein. Der Papst ist katholisch, der Fürst ist katholisch und ich bin auch katholisch. Luther erkannte, dass kollektive Zugehörigkeit zum Glauben nicht alles ist, das braucht einen weiteren Schritt.
Zugehörigkeit zu einem Kollektiv ist ganz wichtig, aber Glaube muss auch persönlich sein. Das war die große Entdeckung Luthers.

Kollektiv bedeutet: für mich gilt, was für alle gilt.
Persönlich bedeutet: von Herzen.
Kollektiv bedeutet: ich schließe mich dem Glauben an, den alle haben
Persönlich bedeutet: ich glaube mit meinem ganzen Herzen.

Luther hat also nicht nur die Gnade Gottes wiederentdeckt angesichts einer entarteten mittelalterlichen Werkgerechtigkeit, sondern ganz stark auch die Bedeutung des persönlichen, von Herzen kommenden Glaubens im Gegensatz zur stumpfen kollektiven Zugehörigkeit zum Christentum. Vom Kollektiv zum persönlichen, vom Äußeren zum Herzen.
Das Kollektive bleibt für Luther nach wie vor wichtig, die große Verbundenheit, den Blick auf das große Ganze, aber hinzu kommt der persönliche Aspekt, dass mein Glauben und meine Taten von Herzen kommen müssen, meine Herzensentscheidung sein müssen.

Nun ereignet sich aber die nächste gesellschaftliche Entwicklung, die heute unser größtes Hindernis für liebevolle Gemeinschaft darstellt. Sie beginnt mit der Aufklärung und der Entstehung von wirtschaftlichem Privatbesitz. Aus kollektiv wird persönlich und aus persönlich wird plötzlich privat bzw. individuell.
Privat heißt jetzt aber plötzlich: ich mache es für mich. Das geht deutlich über das »von Herzen« hinaus. Die Frage ist jetzt nicht nur, ob es von Herzen kommt. Die Frage ist jetzt vor allem was es mir bringt. Mache ich das für mich? Privat heißt: ich mache es für mich, losgelöst vom Kollektiv, eben privat.
Und individuell führt das Ganze noch einen Schritt weiter: Individuell heißt: ich mache es auf meine Art und Weise, ich mache es anders, individuell. Es genauso zu machen wie der andere scheint zur regelrechten Bedrohung meiner Individualität zu werden! Wir stehen heutzutage alle unter dem Diktat der Individualität, das uns weiß machen möchte, dass alles kollektive und gemeinsame schädliche Gleichmacherei ist.

Aber Glaube und Nachfolge waren nie als etwas privates oder individuelles gedacht. Sie waren als etwas kollektives aber persönliches gedacht. Und privat bzw. individuell ist eben das Gegenteil von kollektiv und persönlich. Wir leben in einer individualisierten Gesellschaft, wo die große Frage ist, wie es für mich stimmt, und was es mir bringt. Das ist das soziale Glaubensbekenntnis unserer heutigen Gesellschaft. Aber je individueller mein Glaube und meine Nachfolge, desto schwieriger wird liebevolle Gemeinschaft .
Zusammenhalten, einträchtig sein, miteinander teilen, gemeinsam essen, sich gemeinsam versammeln, bescheiden sein, Verbindlichkeit, sich für die Dinge des anderen interessieren, nicht nur auf mich schauen, sich einander verschenken, Verzicht üben, die Schwierigkeiten des anderen auf mich nehmen, so selbstlos lieben wie Christus gelebt hat – all das ist Gift für einen Glauben, der privat oder individuell sein möchte. Wenn wir die Grunderfahrung einer liebevollen Gemeinschaft machen wollen, dann müssen wir uns verabschieden von einem privaten und individuellen Glauben! Glaube muss persönlich sein, unbedingt, aber das ist etwas ganz anderes wie privat oder individuell. Glaube ist keine Privatsache! Glaube ist nichts individuelles! Er ist persönlich!
Wenn Christen sich entscheiden, ihren Glauben privat zu leben, ohne Gemeinschaft, ohne Anbindung, ohne Verbindlichkeit, ohne Kollektiv, ohne lokale Gemeinde und Kirche dann reden wir hier nicht von biblischem Glauben, nicht von Jesusglaube. Dann reden wir von einer individualisierten Form des Glaubens, der nur noch eine geringe Schnittmenge mit biblischem Glauben hat.

Und seltsamerweise haben immer mehr Christen den Eindruck, eine Recht auf einen privaten Glauben zu haben. Der Glaube verschwindet aus dem öffentlichen Leben, wird zu etwas, über das man nicht spricht, es wird sogar peinlich darüber zu sprechen, Glaube wird dadurch zum Tabuthema und in den persönlichen Schambereich verwiesen. Es ist ähnlich tabu über seinen Glauben zu reden, wie über seine Sexualität. Und plötzlich ist Glaube eine Sache des privaten, Privatsache.
Warnend beschreibt Johannes in seinem ersten Brief die Konsequenzen eines solchen individualisierten Privatglaubens:
1.Joh.3,16 Christus gab sein Leben für uns hin; daran haben wir erkannt, was Liebe ist. Auch wir müssen deshalb unser Leben für unsere Brüder und Schwestern einsetzen. 17 Angenommen, jemand hat alles, was er in der Welt braucht. Nun sieht er seinen Bruder oder seine Schwester Not leiden, verschließt aber sein Herz vor ihnen. Wie kann da die Liebe Gottes in ihm bleiben und er in ihr?

Wie ist es möglich, dass ein Christ sich verschließt vor der Not eines anderen Christen, obwohl er genug hatte um zu helfen? So etwas geht nur, wenn Glaube zur Privatsache wurde. Dann geht es eben nur noch um meinen Glauben und was er mir bringt und was er für mich bedeutet. Es geht um mein persönliches Heil, um meine Gottesbeziehung, aber nicht mehr um das Ganze, die Geschwister und das Kollektiv. Dann geht mich der andere eben plötzlich nichts mehr an. Dann kann ich mich tatsächlich verschließen vor dem anderen und seiner Not. Aber genau die Realität dieses Verses erleben wir zuhauf in der westlichen Christenheit, die nicht mehr Kollektiv denkt, nicht mehr in Sippen und Familien, sondern hauptsächlich privat und individuell.

Es bleibt dabei: wir sind Schafe, keine Elefantenbullen.