Montag, 2. November 2015

Israel als Gerichtsmassstab?

Vor einigen Tagen hatten wir im Rahmen eines städtischen Leitertreffens einen Vortrag von Johannes Gerloff. Als deutscher Theologe und Journalist lebt er seit vielen Jahren in Israel. Er ist geprägt von einer großen Liebe zu Israel und dem jüdischen Volk. In seinen Büchern beschäftigt er sich mit den Grenzen Israels, mit der Auslegung von Römer 9-11, mit dem Volk der Palästinenser und vielem mehr.
Was mir in seinem Vortrag entgegen kam war eine sehr einseitige Israeltheologie und ein ausgeprägtes schwarz-weiß Denken, das zu meinem Erstaunen immer wieder mit starkem Kopfnicken und zustimmendem Murmeln der anwesenden Leiter quittiert wurde.
Ich selbst war doch recht schockiert.
Zum einen haben Gerloffs Erfahrungen mit Moslems ihn zur grundsätzlichen Haltung gebracht, dass jeder Moslem besessen ist, weil der Islam nichts anderes als dämonische Besessenheit ist. Diese Pauschalisierung finde ich unfassbar. Sie ist geprägt von der Erfahrung, dass sich viele Moslems sehr schwer tun mit einer klaren Bekehrung und immer wieder hin und her gerissen sind. Aber das erlebe ich auch bei Atheisten oder anderen Menschen, die nach langer Prägung ohne Gott dann in die Nachfolge Jesu gerufen werden.
Die Bibel hat extra eine Beschreibung für diesen Kampf: es ist der Konflikt zwischen Geist und Fleisch, zwischen der neuen Natur und der Alten. Aber hier pauschal Dämonisierung ins Spiel zu bringen halte ich für völlig überzeichnet und wird der ernsten und hingebungsvollen Gottessuche vieler Moslems in keinster Weise gerecht. Es fördert vielmehr das Bild des bösen Moslems. So kann man Denken, wenn man von fanatischen Selbstmordattentätern spricht, die sich im Namen Gottes in die Luft sprengen um andere zu töten und zu verletzen. Aber Besessenheit auf alle Moslems zu beziehen ist fatal für den Umgang mit diesen Menschen und steht uns ausserdem überhaupt nicht zu als Aufgeforderte, keinen Menschen zu verurteilen.

Noch schwerwiegender in seinen praktischen Folgen fand ich aber seine Auslegung von Matthäus 25. Der berühmte Text, bei dem der König die Schafe von den Böcken trennt: die einen ins ewige Reich des Vaters und die anderen in ewiges Feuer. Für ihn ist das ein Text über das Gericht, und das Handeln der Menschen ist gerichtsentscheidend. Um welches Handeln geht es denn für ihn in diesem Text?
Für Gerloff geht es um den einen Satz des Königs: was wir mit den Brüdern getan haben oder eben nicht. Für ihn sind diese Brüder das Volk Israel, die Juden. Gerichtsentscheidend ist für ihn also, wie wir zu Israel stehen. Gleichgültigkeit oder Neutralität Israel gegenüber ist für ihn gerichtsentscheidend.
Nun bin ich absolut dafür, eine Liebe zu Israel zu entwickeln, dieses Volk, ihre Religion, ihr Land und ihre Kultur wertzuschätzen. Ich denke wir sollten allen Völkern gegenüber eine wohlwollende und freundschaftliche Haltung entwickeln, gerade zu Israel. Aber es zum Gerichtskriterium zu machen geht völlig am Text vorbei. In Matthäus 25 geht es um den Dienst an den Armen, den Kranken, den Nackten, den Hungrigen, den Fremden und Gefangenen. Seit Jahrhunderten dient dieser Text dazu, Christen zu einem diakonischen und barmherzigen Verhalten zu rufen. Wie stehen wir zu den Schwachen und Armen, den Vertriebenen und Gefolterten, den Hungernden und Ausgebeuteten? Viel diakonische Arbeit der ersten Christen bis zu den christlichen Krankenhäusern der Neuzeit haben diesen Text als  Grundlage. Dieser Text ist ein Meilenstein der christlichen Nächstenliebe und Diakonie seit 2000 Jahren.

Nach unserem Treffen ist so mancher Leiter nach Hause gegangen mit dem Gedanken, dass es nun vor allem darum geht, wie man zu Israel steht. Mit einem Wisch das diakonische Anliegen Jesu vom Tisch gefegt und mit Israelliebe ersetzt. Da finde ich eine Katastrophe! Das ist ein weiterer Schritt in Richtung dieser einseitigen, Scheuklappen tragenden Israelüberbetonung. Und was heißt nicht gleichgültig oder neutral zu Israel zu stehen? Muss ich jetzt mein Olivenöl von dort beziehen oder Waffenlieferungen an Israel gut heißen? Auf diese konkrete Rückfrage aus dem Publikum blieb Gerloff eine Antwort schuldig.
Gerloff kommt zu dieser Auslegung, weil er vom alten Testament her denkt. Und da sind mit "Brüder" immer die anderen Juden gemeint. Für ihn muss man die Bibel von vorne lesen. Das NT vom AT herkommend deuten. Aber hier steckt bereits der Fehler. Ich sehe das genau andersherum. Jesus ist die letzte und grosse Offenbarung Gottes und wir sehen alles in seinem Licht. Wir können das AT eben erst durch Jesus vertstehen. So vieles bleibt widersprüchlich und verstörend im AT, wenn es nicht von Jesus her verstanden wird. Man muss die Bibel von Jesus her lesen, nicht von vorne!

Ich bin ein Freund Israel, ich war schon mehrmals dort, habe Freunde dort, habe eine Israelreise für unsere Gemeinde organisiert und könnte mir vorstellen dort für eine gewisse Zeit zu leben. Nach dem Holocaust durch die Deutschen bleiben wir ewig dem Wohlergehen Israels verpflichtet. Aber die evangelikale Israelromantik erinnert mich ganz stark an die katholische Marienverehrung, die den Evangelikalen doch so viel Mühe bereitet.
Da gibt es diese Maria, die eine besondere Rolle im Glauben des Katholiken spielen muss, die man besonders verehren soll, zu der man beten soll und die eine ganz zentrale heilsgeschichtliche  Bedeutung hat. Wer diese Haltung zu Maria vermissen lässt wird eines wenig ernsthaften Glaubens verdächtigt.
Auf evangelikaler Seite lässt sich Maria mit Israel austauschen, die inneren Reflexe sind dieselben: Israel muss eine besondere Rolle im Glauben spielen, man muss es besonders verehren, für Israel beten und seine zentrale biblische und heilsgeschichtliche Bedeutung erkennen. Wer das nicht tut, dem wird mangelnde Erketniss der Wahrheit unterstellt.
Scheinbar brauchen viele Christen etwas Handgreifliches für ihre Gottesverehrung. Ob es eine historische Frau ist, ein irdisches Volk oder ein goldenes Kalb. Aber ist Gott nicht gerade Mensch geworden, damit wir ein für allemal etwas Handgreifliches für unseren Glauben haben? Eine irdische Person, der Mensch Jesus Christus, ein Mann aus Fleisch und Blut. Ich habe bis heute nicht verstanden, warum es da für so viele Gläubige wichtig ist, noch eine Maria oder ein Israel oder sonst etwas ihrer Gottesverehrung hinzuzufügen. Mir reicht Jesus vollkommen aus. Ich kann mich nicht satt sehen und denken an ihm.